Draußen vor dem offenen Fenster rauschen Autos. Wenn ich nicht wüsste, wie anders das Meer klingt, könnte ich denken, ich säße bei kühlen fünfzehn Grad an der Küste. Die Sonne scheint milchig durch den lichten Baum vor dem Haus auf meine nackten Füße. Das zu betrachten, lässt mich einen Moment innehalten.
Ich bin allein in meiner Wohnung. Motivation ist was anderes, im besten Fall nenne ich das Müßiggang, aber was mache ich denn? Ich spüre, dass ich lebe. Meine Lunge schmerzt und mein Körper zittert. Ich rauche viel und anstatt Tee und Frühstück sitze ich hier mit Kaffee und Kippe. Wenigstens mit Hafermilch, ich meine, dass das meinen Körper weniger belastet als Kuhmilch. Keine Ahnung warum, ist eben Wahrnehmung. Der kühle Luftzug auf der Haut hält mich wach, eine kalte Dusche wäre auch ne Idee, aber keine Lust mich zu bewegen.
Ich genieße die Gesellschaft meiner toten Freunde. Vor mir reihen sich um die zweihundert Bücher auf. Sie schlängeln sich am Boden entlang, um die Ecke in den Erker hinein und auf der anderen Seite wieder heraus. Es gibt Zeiten, in denen ich mir niemanden vorstellen kann, der das hier versteht. Dann suche ich Zuflucht in den Werken von Thoreau, Kerouac, Nietzsche, Hesse, Bukowski, London, Fromm. In diesen Büchern finde ich Trost und Zustimmung. Letztendlich schreiben sie alle vom Selben. Von dem Kern, der in allem Leben steckt und der es weiter und weiter treibt durch die Flut der Zeit. Diese Menschen saßen jahrelang da und manche schrieben bis in die Vereinsamung und den Wahn hinein. Sie glaubten daran.
Ich sitze hier und denke, wie oft fand ich schon meine Gedanken in einem alten Werk? Nichts ist wirklich neu, jede Erkenntnis fühlt sich an, als würde das Unterbewusste etwas Altes hinauf würgen und ins Bewusstsein kotzen. Anstatt darauf zu hören, gehe ich mit den Gedanken hausieren. So stolz ich bin, so sehr blende ich meine Taten aus. Ich will nicht sehen, dass ich es im Grunde verfehle.
Aber das ist nicht die Totale. Es gibt andere Zeiten, da spreche ich nicht nur von den sonst totgeschwiegenen Möglichkeiten. Manchmal versuche ich nichts, erwarte nichts und plötzlich spüre ich alles.
Einmal saß ich nach einer anstrengenden Barschicht mit meinen Kollegen im Biergarten vor dem Ballhaus auf der Insel. Das Konzert war seit zwei Stunde vorbei und wir genossen den Feierabend. Wir hatten den weiten Freisitz für uns und quatschten über irgendwas. Nur eine Frau saß entfernt mit Weinglas in der Hand unter den lichterkettenumrankten Linden. Sie schien zu schwelgen und kuschelte sich in ein weißes Tuch. Ich ging zu ihr.
Ihr gegenüberstehend fragte ich, ob es ihr gut gehe. Da schaute sie auf. Ihre Augen glänzten betrunken und glückselig. Sie raunte: „Ja, sicher.“
Ich setzte mich und begann ein unbeholfenes Gespräch. Sie war nicht mehr ganz da, volltrunken oder verrückt, dachte ich. Die Kulleraugen starrten mich weit aufgerissen an und ihre Sprache war zwar langsam, aber weder lallend noch genuschelt.
Sie war Künstlerin, wie sie immer wieder betonte. Plötzlich erzählte sie von ihrem Gender – sie war nicht nur Frau, und das hätte ich wohl sofort erkannt. Ich hätte gesehen, wie sie wirklich ist.
Vor ein paar Stunden, als ich in meiner ersten und einzigen Pause am Tisch nebenan für fünf Minuten der Band zugehört hatte, war sie über die Lehne der Bierbank zu ihrer blonden Hippiefreundin geklettert und hatte mir zugerufen: „So bin ich eben.“
Ihr Lachen hatte mir ein verwirrtes Lächeln beschert.
Jetzt nahm sie meine Hand, beugte sich über den Tisch mit ihren riesigen Augen, die mich packten, und flüsterte: „Du bist ein wunderschöner junger Mann. So edle Züge.“
Sie tastete mein Gesicht ab, als wolle sie sich davon überzeugen, dass ich echt sei, und blieb wieder an meinen Augen hängen.
Sie sagte: „Du sehnst dich zu sehr nach einem kleinen bisschen Liebe.“
„Du bist auch schön“, murmelte ich.
Verdammt, das war sie mit ihren Augen so dunkel und tief wie der Ozean bei Nacht, dem feinen Gesicht und dem vollen, braunen Haar. Nur die Nase war ein wenig zu groß.
„Nach Liebe sehnt sich jeder“, hängte ich hintenan.
Sie lehnte sich zurück und spielte mit ihren Haaren: „Mag sein, aber du verbrennst schon. Und Künstler bist du auch, das sehe ich.“
Ich nickte und stieß mein Bierglas gegen ihr Weinglas, das sie mir entgegenhielt. Im nächsten Moment nahm ich den Wein zu mir: „Ist besser für dich, aber sag mal, du sitzt hier seit Stunden alleine, wo wohnst du denn?“
„Ist es nicht schön hier? Und jetzt spreche ich mit dir, du, von vorhin, du jetzt. Ist das verrückt.“
Ich setzte ein Lächeln auf und starrte möglichst nett in die hemmungslosen Augen, sagte: „Ja, ich jetzt, du auch jetzt, alles immer jetzt.“
Wieder beugte sie sich über den Tisch, spielte sanft mit meinen Fingern und hauchte: „Wir sind beides besondere Menschen, die besondere Menschen sammeln. Wenn du möchtest, können wir uns heute Nacht einsammeln.“
Das Wort einsammeln ließ mich an Pokemon denken. Ich schmunzelte: ‚“n sich finde ich die Idee echt schön und du schmeichelst mir. Aber sag mal. Wo ist denn dein Bett? Wo musst du denn hin?“
Sie nahm das Weinglas in die Hand, schwenkte es und erzählte von ihren zwei Kindern in Rostock und von ihrem Partner, von ihrer offenen Beziehung und dass die meisten Männer Angst vor ihr haben.
Ich lachte und fragte: „Wie alt bist du eigentlich?“
„Wie alt bist du denn?“
Ich hatte keine Lust zu spielen: „Vierundzwanzig. Du?“
„Schätze doch mal.“
Sie könnte noch Ende Zwanzig sein und dann wäre Anfang Dreißig irgendwie gemein.
Ich: „Neunundzwanzig.“
Sie: „Dankeschön.“
Ihre Augen spielten mit mir.
Ich trank einen großen Schluck Bier. Langsam fand ich das Gespräch fad, fragte nochmal: „Und, wie alt?“
Sie: „Sechsunddreißig.“
Mir fielen im Halbdunkeln kleine Lachfältchen an ihren Augen auf. Ja, Ende Zwanzig war wohl ein freudscher Gedanke.
„Ey, ich bin übrigens Ruben. Wie heißt du denn?“
„Das ist ein schöner Name, Ruben. Ich bin Christinchen.‘
„Freut mich, dich kennenzulernen Christinchen. Darf ich dich nach Hause begleiten?“
Sie schaute mich lange an und da wurde mir klar, dass sie keinen blassen Schimmert hatte, wo das war.
„Shit“, ich stand auf, „genieße die Nacht, C.“
Am Mitarbeitertisch fragten meine Kollegen, ob sie mich abgeschossen hätte.
Ich meinte kühl: „Suff oder verrückt. Jedenfalls ist es schwer, mit ihr ein Gespräch zu führen.“
Wie ich meine Worte hörte, dachte ich, dass sie mir viel zu tief in die Augen geschaut hatte. Ich verbrenne schon, hatte sie gesagt. Ja, ich weiß das, ich drehe manchmal durch deswegen. Aber das ist auch nichts neues unter Menschen. Wie viel Streit und Unmut entsteht durch die Unfähigkeit zu lieben?
Meine Kollegen tranken weiter und unterhielten sich über die miserable Vereinsstruktur und den Vorstand. Der musste alle größeren Entscheidungen für die Gastro absegnen, obwohl er wenig bis keine Ahnung von der Materie hatte. Probleme jeder beliebigen Demokratie.
Martin gab einen Joint in die Runde und ich genoss den Zug, dachte, so kriege ich meinen Kopf weg von dieser Gestalt, dieser Person, dieser nicht nur Frau. Sie hatte das so offen ausgesprochen, als hätte sie gewusste, dass ich es verstehen würde. Jetzt, wie ich die Zeilen schreibe, begreife ich ein bisschen mehr.
Martin stand auf und lief zu ihr, begrüßte sie unsicher und kuschelig freundlich, typisch Martin. Er bat sie zu uns und nach ein wenig hin und her kam sie mit ihm. Wir boten ihr einen Stuhl, sie nahm Platz, nach ein, zwei Fragen merkten die anderen, dass sie überfordert war.
Christinchen schaute hilflos in die Runde.
Ich bot an, sie bis zur Brücke zu bringen. Die war nicht weit vom Haus entfernt und führte von der Insel hinüber zur Oberstadt. Da brachte Dome Sandalen aus dünnen Lederriemen, die noch unter ihrem Tisch gelegen hatten. Zuerst bedankte sie sich, dann atmete sie eingeschnappt aus, als wollten wir sie rausschmeißen. Ich lächelte mitfühlend und streichelte ihre Schulter: „Lass uns zur Brücke gehen, Christinchen.“
Schon war das Strahlen zurück. Es fühlte sich an, als würden diese riesigen, leuchtenden Augen auf meiner Haut kleben.
Verliebt raunte sie: „Ja, die Brücke ist schön.“
Die anderen verkniffen sich ein Lachen.
Ich stand auf und nahm sie bei der Hand: „Lass uns gehen, Christinchen.“
Sie verabschiedete sich und wir gingen los an den leeren Tischen vorbei und hinaus auf den dunklen Asphaltplatz. In der Ferne säumten Laternen die Straße zur Südspitze der Insel und tauchten die Wiesen und die alten Platanen am Wegrand in orangenes Licht.
Links ragte die Brücke schroff hinter schwarzen Bäumen hervor. Was, wenn sie gar nicht in der Oberstadt wohnt?
„Hey, Christinchen, wo willst du denn lang gehen?“
Sie strahlte mich an und zeigte hüpfend auf den Laternenweg.
„Okay, dann lass uns da lang gehen.“
Wir kamen nicht weit. Sie lief zum ersten Baum, zog ihr Höschen unter dem kurzen Kleid hervor bis zu ihren Knöcheln, hockte sich mit dem Gesicht zu mir hin und pinkelte. Ich lachte laut und sie stimmte mit ein und fragte: „Ist das komisch für dich?“
Ich schaute fasziniert: „Es ist natürlich und wunderschön, irgendwie.“
Sie quetschte ihre Lippen hin und her: „Ist das nicht komisch, dass du da was zwischen den Beinen hast und ich auch, nur ganz anders, aber irgendwie passt das perfekt ineinander.“
Ich lachte wieder: „Ja, das Leben funktioniert perfekt, zumindest wenn ich mir nicht einrede, dass es nicht so ist und ständig alles Unangenehme vermeide.“
Plötzlich furzte sie laut.
„Genau, das meine ich“, ich wischte mir übers Gesicht. Mein Gott, so viel Freude hatte ich lange nicht gefühlt, also nicht wegen der Sache an sich. Das Leben spielt so absurd, wenn ich es zulasse, deshalb. Ich hatte nach der Schicht nichts mehr erwartet und jetzt das.
An der nächsten Laterne hüpfte sie zum Wiesenrand: „Lass uns sitzen!“
Sie breitete ihr weißes Tuch aus, und klopfte auf den Platz neben sich. Hilflos und belustigt schüttelte ich den Kopf.
Bis jetzt waren wir vielleicht vierzig Meter gekommen. Das wird ne lange Nacht.
Ich: „Hast du ein Telefon dabei? Dann schicke ich mir eine SMS und schaue morgen, ob du gut geschlafen hast.“
Sie holte es aus einer kleinen Tasche ihres Kleides. Ich schrieb „Hallo Christinchen‘, drückte auf send und schaute auf.
„Weißt du“, murmelte ich, „deine Augen sprühen wie römische Lichter, voll leuchtend hellem Wahnsinn.“
Sie strich mir über den Rücken: „Oh, wenn du wüsstest. Manchmal arbeite ich ewig an einer Zeichnung, tausend Stunden, bis zur Besessenheit.“
Ich: „An meinem letzten Gedicht saß ich zwei, dreihundert Stunden. Der Weg durch den Alltagsscheiß bis zu den Gedanken, die ich wollte, hat einfach ewig gedauert, vom Weg zurück gar nicht zu sprechen.“
Wir schauten uns in die Augen und verstanden das bedingungslos. Vielleicht bin ich verrückt, weil ich mich so lange nicht in einem anderen Menschen fühlen konnte und das jetzt mit dieser berauschten nicht nur Frau passierte. Aber was solls. Ich zweifle oft genug an jedem bisschen Glück. Ich ließ los und schaute sie an und in ihr fühlte ich mich geborgen. Da war nichts mehr und ich war nichts als der Raum hinter ihren riesigen Pupillen. Sie öffnete ihre Lippen und sprach mit einer Bestimmtheit, wie ich sie lange nicht gehört hatte.
Sie sagte: „Du kennst mich.“
Für eine Sekunde verschwamm alles, ihr Gesicht, die Luft um uns herum und die Bäume am Ende der Wiese, und fand sich neu. Ich kannte sie. Tobia. Das war Tobia vor mir, die Augen, das Gesicht. Tobia, die mir vor Jahren das Leben gerettet hatte, die mich in ihre Familie aufgenommen und mit der ich die Welt bereist hatte. Christinchen war Tobia. Ich schrie ihren Namen und sprang angsterfüllt weg.
Ruhig sagte sie: „Nein, ich bin nicht Tobia.“
Wahnhaft kniete ich mich vor sie und suchte ihre Hand nach dem eingedellten Kreis ab, den ich ihr am Ende unserer Beziehung gestochen hatte. Er war nicht da, ich verschluckte mich.
Mein Hinterkopf, da wo der Hirnstamm sitzt, verkrampfte sich und schmerzte, als hätte mir jemand einen Baseballschläger mit voller Wucht in den Nacken gezimmert. Ich drückte beide Hände darauf und keifte Christinchen an: „Scheiße, du hast mir gerade nen psychotischen Schub verpasst!“
Ich hächelte und taumelte hin und her.
Christinchen saß noch immer da wie die Ruhe selbst und sagte: „Ja, das kenne ich.“
„Fuck!“, schrie ich nochmal und lief davon, wischte immer wieder über meinen Nacken.
„Lass dich verdammt nochmal nicht so sehr auf Psychos ein, Ruben. Scheiße verdammt, das hast du davon. Fuck, Fuck, Fuck!“
Ich lief gehetzt auf das Gelände zu meinen Kollegen.
„Ist noch Bier da?“, unterbrach ich sie angestrengt.
Meine Leute schauten verwirrt, da fügte ich hinzu: „Sie ist zu durch, ich bin zu durch, egal.“
Sie nahmen ihr Gespräch wieder auf. Ich konnte nicht folgen. Meine Gedanken beschwerten meinen Kopf wie Teer. Ab und an nippte ich an der Flasche und versuchte ruhig zu atmen. Nach einer halben Stunde sah ich ein, dass ich einfach nach Hause musste. Ich brauchte Schlaf. Kurzum stand ich auf und ging mit einem knappen Tschüss.
Sobald ich auf den Asphaltplatz lief, tauchte eine Gestalt aus der Dunkelheit auf und fragte aus der Entfernung freundlich, ob ich wüsste, wo ihr Bulli steht. Da erkannte sie mich und strahlte glücklich: „Ach, du bist es!“
„Warum sagst du nicht gleich, dass du in nem Bus wohnst!“, schoss es genervt aus meinem Mund.
„Ich weiß nur nicht mehr, wo ich den geparkt habe“, meinte sie unschuldig und wackelte kindlich auf der Stelle.
Sie kam auf mich zu, ich machte einen Schritt von ihr weg.
„Der könnte überall stehen. Hast du vielleicht an so einem weiten brachen Feld geparkt? Das ist nicht weit von hier, da stehen manchmal Busse.“
Sie zuckte unbeholfen mit den Schultern: „Kann sein.“
Okay, noch einmal, dachte ich, „komm mit“, sagte ich und winkte ihr, mir zu folgen.
„Ich will zu meinem Bus!“, schnaubte sie kindisch, stampfte auf und blieb trotzig stehen.
Ich drehte mich zu ihr und schaute so ruhig es ging in ihre Augen. Ohne Vertrauen würde sie mir nicht folgen, also das alte Spiel.
Nach ein paar Sekunden sagte ich: „Ich bringe dich zu deinem Bus, der steht gar nicht weit von hier. Kommst du mit?“
Diesmal setzte sie sich in Bewegung und ging schwungvoll neben mit her. Sie war voller Kraft und Freude, einfach so, das war verrückt. Kurz darauf legte sie ihren Arm um mich. Ich zuckte zusammen und nahm lächelnd Abstand, ihrem Blick hielt ich stand.
Ich fragte: „Wie heißen deine Kinder eigentlich?“
Sie wippte mit dem Kopf: „Annemai Kartoffelbrei und Charlotte Karotte.“
Ich grinste hilflos, überwältigt. Was für ein Gefühl, Angst und, hm, Faszination. Vielleicht Ehrfurcht. Ihr Wesen war so groß, alles um sie herum wurde von dieser Ausstrahlung durchtränkt, der Boden unter unseren Füßen, jeder Ast und die Luft selbst schmeckten nach ihr, fühlten sich nach ihr an, als würde ihr Geist wie ein Flutlicht alles um uns herum anstrahlen und formen. Ich sah sie am rechten Wegrand schlendern und ich ging ganz links. Wir liefen zig Meter und schauten uns nur an. Ihr Blick wurde immer unwirklicher. Nichts, das ich sah, rechtfertigte das. Wie ein Fotograf auf keinem seiner Bilder erscheint, war ich hier vielleicht der blinde Fleck. Die Stille wurde unheimlich.
„Was machst du hier in Halle?“, fragte ich.
„Ich bin Landesstipendiatin.“
„Wow, das ist ne große Auszeichnung.“
Sie kniff die Augenbrauen zusammen: „Danke, aber jetzt erwarten die Leistung und ich weiß nicht, ob ich das kann.“
„Ich glaube, die haben dich nicht ohne Grund ausgewählt, und wenn du einfach machst, was du magst, dann wird das genug sein.“
„Das ist nett von dir“, sagte sie und spielte am Kleid, „ich hab da gerade einen Prozess laufen, den ich vor mir her schiebe. Da brauche ich jemanden, der schreibt.“
„Ich schreibe“, sagte ich.
„Ja? Das ist ja großartig, dann können wir das zusammen machen.“
„Warum nicht, darüber können wir nüchtern nochmal sprechen.“
„Ja, ist gut.“
Ich näherte mich ihr vorsichtig und sagte: „Ich nehme dich in den Arm, wenn das okay ist.“
Sie kniff mir spielerisch in die Seite: „Natürlich ist das okay.“
Ruhig und hellwach lief ich mit ihr. Der Weg führte uns auf eine Brücke und wir verließen die Insel in westlicher Richtung.
„Schau mal“, sagte ich, „da vorn ist das brache Feld und dein Bus müsste gleich links unter den Bäumen stehen.“
Sie schaute auf. In ihrem Blick regte sich Erinnerung. Plötzlich rannte sie los, ich hinterher und wir sprangen über die Findlinge am Wegrand und weiter durch den Dreck. Als wir um die ersten Buchen kamen, tauchte ein dunkelgrauer Transporter im staubigen Laternenlicht auf. Sie blieb stehen und griff mich am Arm.
Stolz rief sie: „Wie schön sie ist, hab ich alles selbst gemacht! Die Fenster an der Seite und im Dach, hab sie innen ausgebaut und gestrichen. Ach, wie schön sie ist!“
Gemeinsam schlenderten wir auf den Bus zu, da legte sie das Tuch auf den Boden und sagte: „Lass uns hinsetzen!“
Okay, dann noch einmal, dachte ich.
In der Ferne leuchteten Straßen, dunkle Blocks streckten sich in den Nachhimmel, darüber unzählige Sterne.
Christinchen lehnte sich an mich und schmuste mit mir. Ich ließ es gern passieren. Als sie mich küssen wollte, schob ich sie vorsichtig weg und sagte: „Besser wir lassen das.“
Sie nickte liebevoll. Ich sah sie an und verstand etwas. Ihr Geist war so groß, als wären alle Wände eingerissen, natürlich überforderte sie mich. Das war nicht nur der Alkohol. Sie würde sich am nächsten Tag nicht erinnern. Ihr Kopf nahm alles auf und spuckte alles mit voller Kraft aus, was auch immer ihr in den Sinn kam. Das hier musste ein Filmriss sein. Sicher war ich mir nicht, aber nach den letzten Stunden, worin war ich mir noch sicher?
Ich sagte, dass ich jetzt nach Hause gehen werde. Wir standen auf und umarmten uns lange. Sie streichelte meinen Hinterkopf und flüsterte: „Ist schon okay. Die Liebe kommt von selbst, wenn du sie zu dir lässt.“
„Pass auf dich auf“, sagte ich.
Ich ging langsam zurück zur Insel. Nach ein paar Schritten schaute ich zurück.
Da stand sie am Rand des schummrigen Laternenlichts. Regungslos blickte ihre Gestalt zu mir. Ihr Gesicht war nicht mehr ihr Gesicht. Schatten tanzten um ihre Augen und wandelten sich und ich sah Christinchen und Tobia und diese eine verrückte Frau von einem WG Casting und die Freundin eines Schriftstellers und ich sah Mara und zig Gesichter in jedem Augenblick. Sie war uralt und über die Maßen schön, sie stand dort wie der Geist einer endlosen Wüste und überall, wohin sie trat, würden Blumen spießen, Bäume wachsen und Vögel emporsteigen. Doch sie blieb reglos, stand dort in ewiger Veränderung. Ich verneigte mich vor ihr und wandte mich langsam ab.
Auf der Brücke kroch die Angst unter meine Haut. Ich hielt mich aufrecht so gut ich konnte, atmete tief und ruhig und wusste nicht sicher, ob ich da war. Alles um mich herum war fremd und nie gesehen. Jede Pflanze lebte, jeder Ast, der sich über den Weg bog, jeder Halm horchte in die Welt hinein und hörte mich. Diesen Weg war ich schon einhundert Mal gelaufen und in dieser Nacht ging ich ihn zum ersten Mal.
Am Tag darauf ging ich kurz vor zwölf zur Mittelschicht. Christinchens blonde Hippiefreundin saß zurückgelehnt mit einem Milchkaffee in der Sonne.
Ich schlenderte zu ihr und fragte, ob es Christinchen gut gehe.
„Na sicher“, sagte sie unbeteiligt, „da kommt sie.“
Hinter mir tauchte die nüchterne C auf. Ja, sie war eine große und starke Frau, selbst mit nem Kater.
„Und? Gut geschlafen?“, fragte ich.
„Richtig gut“, sagte sie.
„Na dann“, sagte ich und schlenderte zum Tresen, begrüßte eine Kollegin und las am Whiteboard die Infos zu den Reservierungen durch. Ich merkte mir nichts davon. Blind machte ich mir einen Kaffee und stand dann da und starrte vor mich hin. Christinchen tauchte mit einem schwarzen Tuch vor dem Gesicht auf.
„Alles gut bei dir?“, fragte sie sanft und lehnte sich mit offenen Augen zu mir.
Ich nickte kalt: „Das Tuch kannst du übrigens runter nehmen“, ich wollte ihr Gesicht sehen, nicht nur die Augen, „kannst du dich erinnern?“
„Nicht wirklich“, sagte sie enttäuscht, „aber ich bin mit einem so warmen Gefühl aufgewacht.“
Sie strahlte wieder.
„Es ist nicht so viel passiert. Du hast mir von deiner Kunst erzählt und von deinen beiden Kindern in Rostock. Das war süß.“
Christinchen nickte, als würde sie sich erinnern. Ich sah, dass sie es spielte.
„Willst du nen Kaffee? Geht aufs Haus.“
„Klar, gerne.“
„Milch?“
„Hafer, bitte. Ein kleines bisschen.“
„Ja, ein kleines bisschen ist oft genug.“
Bald darauf holte sie den Bus, parkte auf dem Asphaltplatz und die Band von gestern lud die Instrumente ein. Ich saß in Sichtweite und schaute zu. Als sie fuhren, winkte ich ihr zum Abschied. Es war komisch, zurück zu bleiben mit den Gedanken. Die Arbeit verstreute sie.
Als ich abends meine Wohnung betrat, dauerte es nicht lange, bis ich etwas tun wollte. Ich wollte mit jemandem darüber sprechen. Ich tippte eine Nachricht in mein Telefon, löschte, formulierte neu. Verkrampft fragte ich, ob sie wirklich nichts weiß.
Sie antwortete: „Wie meinst du das? Ist was passiert?“
Ich schrieb von dem psychotischen Schub und bat um ein Gespräch, dann wartete ich zehn Minuten auf eine Antwort und fragte: „Hey, alles gut?“
Ich lief im Zimmer auf und ab, suchte Ablenkung, rauchte. Fünfzehn weitere Minuten vergingen, dann las ich:
„Hey Ruben, ein psychotischer Schub ist etwas sehr gefährliches, da musst du wirklich verantwortungsvoll mit umgehen. Du solltest dich dann in professionelle Hände begeben. Die Begegnung war sehr schön, aber ich fühle, dass dir das nicht gut tut. Ich möchte mich daher zurückziehen, und hoffe, dass du einen Weg findest damit umzugehen. Gehab dich wohl.“
Nach dem ersten Lesen rutschte mir ein wütendes „dein scheiß Ernst“ über die Lippen. Doch ich brauchte nicht lang, um einzusehen, dass sie es so nicht verstehen konnte.
Ich setzte mich in den Sessel in den Erker und starrte auf die Bücher meiner toten Freunde. Ich war der einzige Mensch, der diese Erinnerung in sich trug. In meinen Augen sammelten sich Tränen; dann ein Lachen, verzweifelt mit einem kleinen bisschen Demut. Ja, ja, sagte ich mir, die Unendlichkeit treibt in jedem von uns. Wer von euch hatte das gleich geschrieben?
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